Von dem Fegfeuer.
Funfzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Die Dichter erblicken einen Engel. Dieser zeigt ihnen den Ort der Stufen, auf welchen sie zum dritten Kreise empor steigen. In diesem reinigen sich die Seelen von der Sünde des Zorns. Hier geräth Dante in eine Begeisterung, und sieht in derselben einige Beispiele der Sanftmuth. Dann bemerken sie einen überaus dunkeln Rauch, von welchem sie ganz umzogen wurden.

So viel von dem lichtern Horizonte unsrer Halbkugel zwischen der dritten Nachtstunde und dem Anbruche des Tages erscheinet, welcher in beständig scherzenden Blicken sein zartes Alter äusert - eben so viel erschien itzt von dem abendlichen Horizonte dieser obern Halbkugel. Und dieser Theil war der Sonne zur Vollendung ihres Laufes noch übrig. Hier war es also Abend, und dort schwebte bereits die Mitternacht über Italiens Erde. Daher schienen uns die Strahlen der Sonne schon bis an die Hälfte des Gesichts entgegen. Denn wir waren den Berg schon so weit im Kreise herumgegangen, daß wir nun gerade gegen den Abend zu giengen. Allein plötzlich fühlte ich einen weit stärkern Glanz, als zuvor, auf meine Stirne herzudringen. Die mir fremde Ursache und Wirkung desselben setzte mich in Erstaunen. Daher erhob ich die Hände über meine Augenbraunen empor, und hielt sie daselbst vor das Gesicht, um solches vor dem übermäßigen Scheine zu beschirmen. 110

So wie vom Wasser, oder vom Spiegel aufgefangene Lichtstrahlen nach ihren hohen oder niedrigen Gegenseiten mit gleicher Geschwindigkeit zurückblitzen, und eine gleiche Weite ungleich schneller durchschießen, als der schnellste Flug irgend eines Steines solche durchfähret, welches Erfahrung und Wissenschaft beweisen - eben so ein gerade gegen mich zurückstrahlendes Licht blitzte mir daselbst in die Augen, daher mein Gesicht sich eiligst von demselben entfernte.

O! liebster Vater, sagte ich hier, was ist das für ein Glanz, den mein Angesicht auszuhalten sich nicht stark gnug fühlt, und der sich gegen uns zu nähern scheint? Wundre dich nicht, antwortete er mir, daß das Ansehen der Kinder des Himmels dein Auge noch blendet. Es ist ein Gesandter, welcher kömmt, einen Sterblichen liebreich zu nöthigen, daß er sich in die Höhe erhebe. Bald, bald wird es dir nicht mehr schwer fallen, sondern ein Vergnügen seyn, dergleichen Veränderungen zu schauen. Dann werden Empfindungen dich weiden, deren die Natur dich nur fähig gemacht hat.

Nun waren wir vor dem seligen Engel angelanget. Tretet nur auf diesen Stufen, so redete er mit vegnügter Stimme uns an, hier herein. Sie sind bey weitem nicht so steil, als die vorigen waren. - Schon stiegen wir nun, scheidend von dem andern Kreise, zu dem dritten empor. Freue dich, du Ueberwinder! Selig sind die Barmherzigen! Diese Worte sangen noch Stimmen hinter uns, welche uns also begleiteten.

So giengen wir nun, mein Lehrer und ich, alle beide ganz allein da hinauf. Schon beschäftigte mich der 111 Gedanke, wie ich im Gehen Nutzen aus seinen Reden schöpfen könne. Daher redete ich ihn also an: Mein Lehrer, erlaube mir eine Frage. Was wollte jener Geist aus Romagna eigentlich sagen, als er der Güter Erwähnung that, deren Natur Gemeinschaft und Ausschliessung erfodert? Er erkennt nunmehr, war seine Antwort, die schädlichen Folgen seines ehedem herrschenden Lasters. Man darf sich also nicht wundern, wenn er wider dasselbe eifert, damit es weniger Thränen verursache. Warum bleiben eure Begierden bey Güter stehen, welche, als gemeinschaftliche Bedürfnisse so vieler Mitgenossen in so geringe Antheile ausfallen müssen? Daher facht eben der Neid die Begierden an, daß sie in Seufzer ausbrechen. Allein wofern die Liebe der Geister in jener höchsten Sphäre euer Verlangen nach ihren Gütern emporneigte, so würde jene Furcht von mehrern Mitgenossen euer Herz keinesweges beunruhigen. Denn je mehr Besitzer dort oben sich finden, je mehr Güter besitzt ein jeder von ihnen, und je mehr Liebe flammet in jenen seligen Wohnungen.

Itzt bin ich weit begieriger, sagte ich hierauf, befriediget zu werden, als ich seyn würde, wenn ich kurz zuvor geschwiegen hätte. Und weit mehr Zweifel versammlen sich itzt, die meinen Verstand beschäftigen. Wie ist es möglich, daß vertheilte Güter viele Besitzer derselben reicher machen sollen, als die wenigen Eigenthümer seyn würden, welche sie allein besäßen?

Sobald du, antwortete er mir, deinen Verstand blos auf irrdische Güter wieder heftest, so brichst du von dem Baume des Lichts und der Wahrheit stets Früchte der Finsterniß und des Irrthums. Jenes unendliche und unaussprechliche höchste Gut eilet so schnell 112 in liebende Seelen, als das Licht glänzende Körper durchstrahlet. Je mehr Inbrunst es nun in ihren Herzen findet, je reichlicher schenkt es sich ihnen. Je weiter sie dann den Saamen ihrer Liebe aussäen, je größer wächst der Reichtum ihrer ewigen Schätze. Und je mehr Seelen sich dort oben mit einander vergesellschaften, je mehr Gutes findet sich zu lieben, je mehr lieben sie sich selbst, und je glänzender, gleich vielen Spiegeln, leuchten sie sich unter einander. Sollten diese Gründe der Vernunft dich nicht befriedigen, so wird jene Beatrix, wann dein Auge sie schauet, dir dann dein gegenwärtiges und alles übrige Verlangen vollkommen stillen. Nur sey eifrigst besorgt, daß die fünf übrigen Wunden, so wie die beiden ersten, hinweggetilgt werden. Denn ohne Schmerz lassen sie sich nicht heilen.

Schon war ich im Begriffe, zu sagen: Du stellst mich hinreichend zufrieden, als ich mich eben auf dem andern Kreise angelangt sah, wo meine begierigen Blicke mir ein Stillschweigen auferlegten. Hier schien meine Seele plötzlich in eine außerordentliche Entzückung zu gerathen. Schnell sah ich im Geiste viele Personen in einem 107 Tempel versammlet. Unter solchen erblickte ich eine Frau, welche mit der sanft unruhigen Mine und Stellung einer Mutter hereintrat und sagte: Mein Sohn, warum hast du uns das gethan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Hier schwieg sie, und plötzlich verschwand alles, was sich vorher daselbst zeigte. Dann erschien mir eine 113 andre 108 Frauensperson, der ein Wasser die Wangen herabrollte, welches der Schmerz der Empfindung tropfenweise auspresset, der Schmerz, den heftiger Unwille in beleidigten Herzen erzeuget. Bist du, rief sie, Herr von der Stadt, deren Benennung einen so großen Streit unter den Göttern erregte, von der Stadt, aus welcher alle Wissenschaften hervorglänzen, o! so räche dich, Pisistratus, räche dich an den verwegenen Gliedern, welche unsre Prinzessinn öffentlich umarmten! Sanftmuth, Gelindigkeit und Mäßigung schienen aus der Mine und dem Munde dieses Herrn zugleich zu antworten: Soll der, welcher seine Liebe gegen uns äusert, von uns verurtheilt werden, wie sollen wir gegen den verfahren, der seinen Haß wider uns offenbaret?

Hierauf sah ich Volk, von glühendem Zorne entbrannt, einen 109 Jüngling mit Steinen ermorden. Gräßliche Stimmen schrieen alle, eine der andern zu: Steinige, steinige ihn! Schon sank er vor den Lasten des Todes zur Erde nieder. In solcher Lage hielt 114 er seine Augen beständig zum Himmel empor geöffnet. Und in einem so harten Kampfe erbethete er, unter Blicken, die Mitleiden erpressen, seinen grausamsten Verfolgern erbethete er noch von jenem höchsten Richter Verzeihung.

Sobald meine Seele aus dieser Begeisterung wieder zu den Gegenständen zurückkehrte, welche ausser ihr wirklich vorhanden waren, erkannte ich ihre Einbildungen, die ihre Sinne mit Wahrheiten getäuscht hatten. Mein Führer sah, wie ich mich, gleich einem Menschen, der sich vom Schlafe entfesselt, bearbeitete. Was fehlt dir, sagte er daher, daß du dich nicht aufrecht halten kannst? Schon länger, als eine halbe Stunde bist du nun, wie mit gebrochenen Augen, und, gleich einem Menschen, dem der Wein oder der Schlaf die Knie einbeugt, mit taumelnden Füßen, dahergegangen.

O! liebster Vater, antwortete ich, wenn du mich anhören willst, so will ich dir sagen, was mir da erschien, als mir die Kraft meiner Füße so merklich entzogen ward. Und wenn du auch, erwiederte er, hundert Larven vor deinem Gesichte trügest, so würden solche mir deine Gedanken, auch deine allergeringsten Gedanken, nicht verbergen können. Das, was du gesehen hast, erfolgte in der Absicht, daß du dich nicht weigern mögest, dein Herz mit den lebendigen Wassern des Friedens zu tränken, welche aus jener ewigen Quelle der Sanftmuth herabströmen. Ich fragte: Was fehlt dir? keinesweges aus dem Grunde, warum ein andrer solches gethan haben würde, der blos mit dem Auge bemerket, welches, sobald der Körper leblos liegt, nicht 115 mehr zu sehen vermögend ist. Ich that vielmehr diese Frage, um deinen Füßen Muth und Kraft einzuflößen. Also müssen träge und kraftlose Wanderer ermuntert werden, von der Wiedererwachung ihrer Sinnen einen edlen Gebrauch zu machen.

Wir giengen in der Abendstunde, den späthen und glänzenden Strahlen entgegen, noch weiter, und schauten, so weit die Kräfte unsrer Augen sich erstreckten, mit aufmerksamen und langen Blicken umher. Allein itzt stieg nach und nach ein Rauch, gleich den Finsternissen der Nacht, gegen uns daher, dem wir an keinem Orte ausweichen konnten. Und dieser war es, welcher der Luft ihre Heiterkeit und den Augen den Anblick ihrer Gegenstände entzog.

Sechzehnter Gesang

Anmerkungen:

F107 Im Tempel zu Jerusalem. S. den 48. V. des 2. Kap. des Ev. Luc.
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F108 Die Gemahlinn des Pisistratus, deren Prinzessinn ein junger von Adel, aus heftiger Liebe zu ihr, öffentlich umarmte und küßte. Pisistratus war Regent von Athen und ein kluger, gelaßener und gegen seine Feinde vorzüglich sanftmüthiger Herr.

Die Göttinn Minerva hatte endlich die Ehre, dieser berühmten Stadt den Namen Athen zu ertheilen.
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F109 Den Märtyrer, den heiligen Stephanus.
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10.06.2006