Von dem Fegfeuer.
Siebenzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Die Dichter gehen aus dem Rauche hervor. Dante sieht in einer Begeisterung einige Beispiele des Zorns. Dann gehen sie, auf den Unterricht eines Engels, zu den Stufen des vierten Kreises. Ganz oben auf demselben angelangt, halten sie, wegen hereinbrechender Nacht, daselbst an. Indessen sagt Virgil dem Dante, daß die Seelen sich von der sittlichen Trägheit hier reinigen, und lehret ihn, daß von der Liebe alle gute und böse Handlungen ihren Ursprung haben.

Sollte dich, mein Leser, irgend einmal auf den Alpen ein Nebel überfallen haben, so erinnere dich, wie man durch solchen nicht anders sieht, als Maulwürfe durch ihre düstern Augen zu sehen vermögend sind. Allein vorzüglich erinnere dich, wie schwach die scheinende Sphäre der Sonne bey Auflösung der feuchten und dicken Dünste durch sie hindurchdringe. Dieß wird dir gegenwärtig deine Vorstellung und Einsicht erleichtern, wie ich dort die Sonne, noch ehe sie völlig untergieng, wiedersah. Also gieng ich, den sichern Schritten meines Lehrers gleichförmig, im Angesichte der in den niedern Gefilden bereits erstorbenen Sonnenstrahlen, aus der Wolke jenes Rauchs hervor.

O! Einbildungskraft, wie entreißest du zuweilen den Menschen aller äuserlichen Empfindung, daß er auch nicht das Mindeste außer sich spüret, wenn 125 gleich der Schall von mehr, als tausend Trompeten um ihn herumtönet. Allein wer ist es, der dich bewegt, wenn die Sinne dich nicht beschäftigen? Ein Licht ist es, das in dem Himmel erzeugt wird. Dieses setzt dich entweder unmittelbar, oder auf den Willen eines Engels, der es unten bemerkt, in Bewegung.

In einer solchen Begeisterung erschien mir das Bild der Grausamkeit jener 117 Jachzornigen, welche in den Vogel verwandelt ward, der seine Lust, zu singen, so vorzüglich äusert. Und hier sah mein Geist so ganz in sich gekehrt, daß kein Gegenstand außer ihm von seiner Empfindung weiter aufgenommen ward. Dann stellte sich ein ans Kreuz 118 Gehefteter meiner erhöheten Einbildung dar. Grimm und Stolz zürnten aus seiner Mine, und also starb er. Um ihn herum befanden sich der große Ahasveros, Esther, seine Gemahlinn, und der gerechte Mardachai, der in seinen Reden und Handlungen den Character des Rechtschaffenen so vorzüglich offenbarte. Gleich einer Regenblase, der das Wasser gebricht, unter welchem sie entstand, löste sich dieses Bild durch sich selbst plötzlich auf. Also verschwand es, als in meinem fortdaurenden Gesichte ein junges Frauenzimmer sich erhob, welches heftig weinte, und rief: O! Königinn 119 warum 126 ließest du dich den Zorn so weit verleiten, daß du nicht mehr seyn wolltest? Dich hast du umgebracht, damit du Lavinien nicht verlieren möchtest. So mußtest du mich aber verlieren. Denn ich bin die Unglückselige, die nun, o! Mutter, deinen Fall eher, als den Tod jenes andern beweinen muß!

So wie der Schlaf sich auflöset, wann plötzlich ein ungewöhnliches Licht die geschlossenen Augen durchstrahlet, daher er, so getrennet, sich noch besonders sträubet, ehe er völlig dahinstirbt, - eben so zerfielen die Schatten meiner Einbildung herab, sobald ein weit stärkeres, als Menschen gewöhnliches Licht mir in die Augen drang. Ich wandte mich, um zu sehen, wo ich mich befände, als eine Stimme rief: Hier steigt man empor. Dieser Ruf entfernte alle andere Gedanken in mir, und machte mein Verlangen, diesen Redenden zu schauen, zu einer eilfertigen, zu einer solchen Begierde, welche nicht ruhet, bis sie ihren Gegenstand findet. Allein, gleich der Empfindung beym Anblicke der Sonne, die unser Gesicht verletzt, und mit ihrem zu häufigen Glanze ihre Gestalt verhüllet, empfanden meine Augen auch hier die Unzulänglichkeit ihrer Kräfte.

127 Dieß ist, sagte mein Führer, ein göttlicher Geist, der uns den Weg zur Ersteigung der Höhe, ohne solches erst von ihm zu erbitten, anzeigt, und mit seinem Lichte sich selbst verbirgt. Er handelt an uns, wie der Mensch an sich selbst handelt. Denn wer die Bitte eines Hülfsbedürftigen erwartet, dessen Noth er vor Augen sieht, der denkt schon menschenfeindlich auf eine abschlägliche Antwort. So laß dann unsern Fuß sich einem so großen Rufe gemäs bezeigen. Laß uns diese Ersteigung beschleunigen, ehe es Nacht wird. Denn hernach kann es nicht geschehen, bis der Tag nicht erst wiederkömmt.

So wandten wir uns hierauf, und giengen alle beide nach den Auftritten einer Anhöhe zu. Sobald ich mich auf der ersten Stufe befand, spürte ich nahe bey mir wie einen Flügel sich bewegen, der meinem Angesichte Luft, und meinen Ohren die Worte zuwehete: Selig sind die Friedfertigen, entsündigt vom Zorne der Bosheit!

Schon schossen nun die letzten Strahlen der Sonne, welche die Nacht zu ihrem Gefolge haben, so erhaben über uns die Höhe hindurch, daß die Sterne auf verschiedenen Seiten bereits zum Vorschein kamen. O! warum entfliehen mir, sagte ich bey mir selbst, itzt meine Kräfte so plötzlich? Denn ich fühlte es, daß meine Füße mit ihrer Bewegung Stillstand gemacht hatten. Da, wo keine Stufe mehr in die Höhe geht, hier standen wir, wie angeheftet, und, gleich einem angelandeten Schiffe, ganz unbeweglich. Aufmerksam, ob ich vielleicht in diesem neuen Kreise etwas hören könnte, wartete ich anfänglich ein wenig. Dann wandte ich 128 mich zu meinem Lehrer und sagte: Mein gütiger Vater, unterrichte mich, von was für Vergehungen die Seelen sich in dem Kreise reinigt, in welchem wir uns hier befinden. Und hören die Füße gleich auf, zu gehen, o! so höre dein Mund nicht auf, zu reden!

In diesem Bezirke, antwortete er mir, muß alle Versäumniß in Ausübung der pflichtmäßigen Liebe zum Guten ersetzt werden. Hier muß das übel vernachlässigte Ruder wiederersetzlich bearbeitet werden. Allein damit du solches noch deutlicher einsehen mögest, so wende dich mit deinem Geiste zu mir, und so wirst du aus unserm Verweilen einen heilsamen Nutzen schöpfen.

Nie, mein Sohn, so fieng er hierauf an, ist weder der Schöpfer, noch sein denkendes Geschöpf ohne Liebe gewesen. Dieß weißt du. Stets haben sie, entweder eine 120 natürliche, oder eine freye Liebe gefühlet. Die natürliche ist stets frey vom Irrthume. Allein die andre kann irren. Denn sie kann entweder einen bösen Gegenstand wählen, oder zu lebhaft, oder zu schläfrig seyn. So lange sie auf die ersten und wahren Güter gerichtet bleibt, und in den Nebengütern sich selbst gehörig mäßiget, so kann sie keinesweges die Ursache eines nachtheiligen Vergnügens werden. Allein sobald sie zu unerlaubten Gegenständen sich hinkrümmet, oder mit mehr oder weniger Sorgfalt, als die Pflicht erlaubet, nach Gütern eilt, so braucht sie das 129 Geschöpf wider seinen Schöpfer. Dieß wird dir die Wahrheit begreiflich machen, daß die Liebe, als ein Saame in euch liegt, aus welchem alle Tugenden, und alle strafwürdigen Handlungen ihren Ursprung nehmen. So kann auch die Liebe nie ihre vorsorgenden Blicke von dem Wohl ihres Besitzers entfernen. Daher sind alle Wesen vor dem Selbsthasse gesichert. Auch läßt sich kein einziges Geschöpf denken, das für sich bestehen, oder von dem höchsten Wesen getrennt und unabhänglich seyn könnte. Daher ist auch den Geschöpfen alle Neigung zum Hasse ihres Schöpfers abgeschnitten. Sind nun meine Eintheilungen und Schlüsse richtig, so bleibt nichts übrig, als daß das Uebel, welches man liebt und wünscht, blos den Nächsten zum Gegenstande habe. Und diese Liebe des Bösen wird auf eine dreyfache Art auf dem schlammichten Boden eurer Sinnlichkeit erzeugt.

Es giebt Menschen, welche durch Unterdrückung ihres Nebenmenschen Vorzüge und Hoheit zu erlangen hoffen. Und blos deswegen wünschen sie, daß er von seiner rühmlichen Höhe in eine unglückliche Tiefe herabgestürzt werde. Es giebt Menschen, welche befürchten, Macht, Gunst, Ehre und den Ruf ihres Ansehens zu verlieren, weil ein andrer neben ihnen emporsteigt. Daher härmen sie sich so misgünstig, daß sie ihm das Gegentheil ihres Glücks wünschen. Es giebt endlich Menschen, welche durch Unrecht und Beleidigung so beschimpft zu seyn glauben, daß sie sich von der Rachbegierde gänzlich einnehmen lassen. Und solche müssen das Unglück ihres Nächsten vorzüglich lieben.

130 Diese dreyfache 121 Liebe zum Bösen wird also hier unter uns beweinet. Nun aber sollst du die Beschaffenheit der andern Liebe vernehmen, welche, fehlend in der gehörigen Ordnung, den Gütern nacheilet.

Ein jeder Mensch ergreift mit dunkler Einsicht ein Gut, in welchem er die Ruhe seines Geistes finden möge. Solches wünscht er sich. Daher strebt ein jeder nach dem Besitze desselben. Ist die Liebe des Menschen, welche ihn zur Erkenntniß oder zur Erlangung desselben zieht, träge, so wird er, nach endlich erfolgter wahrer Reue, alsdenn hier in diesem Bezirke dafür gezüchtiget. Nun sind noch andere Güter vorhanden. Allein diese machen den Menschen nicht glücklich. Sie alle sind kein Glück. Sie alle sind nicht das wesentliche Gut, welches der Inbegriff aller wahren Güter, welches der Baum ist, der die seligsten Früchte trägt. Daher wird die ausschweifende Liebe zu solchen Gütern , über uns, in drey Kreisen beweinet. Allein wie man auf eine dreyfache Art von dieser Liebe rede, dieß übergehe ich mit Stillschweigen, damit du selbst ihre 122 Arten entdecken mögest.

Achzehnter Gesang

Anmerkungen:

F117 S. die 75ste Anmerk. dieses Ged.
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F118 S. das 7te Kap. des B. Esther.
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F119 Amata, die Gemahlinn des Königs Latinus, und die Mutter der Lavinia. Diese Prinzessin ward dem Aeneas von ihrem Vater zur Gemahlinn gegeben, wiewohl sie vor dessen Ankunft schon einem Vetter der Amata, dem Könige Turnus, versprochen war, welche also durchaus in die Vermählung ihrer Tochter mit dem Aeneas nicht willigen wollte. Daher kündigte Turnus dem Aeneas den Krieg an. Amata ward äusert darüber entrüstet, und befürchtete den Tod ihres Vetters und den Verlust ihrer Prinzessin so sehr, daß sie sich selbst das Leben raubte.
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F120 Gott liebt sich. Dieß ist ein Beispiel der natürlichen Liebe. Ein Mensch liebt einen andern. Dieß ist ein Beispiel der freyen Liebe.
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F121 Stolz, Neid und Zorn.
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F122 Diese drey Arten sind der Geiz, die Schwelgerey und die Unzucht.
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