Von dem Fegfeuer.
Zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante entfernt sich mit seinem Begleiter, und hört im Fortgehen einen Geist, der an Beispiele der Armuth erinnerte. Von diesem vernimmt er, unter andern Nachrichten, daß die Seelen die Nacht hindurch einander Beispiele des Geizes wiederholen. Dann spüren die Dichter, bereits von ihm geschieden, eine zitternde Bewegung des Berges. Diese wird von einem erschallenden Gesange begleitet, welchen die Seelen zum Lobe Gottes daselbst sangen. Und hierauf setzen sie ihren Weg weiter fort.

Ungerecht wird ein jedes Verlangen, das sich einem bessern Verlangen widersetzet. Dieß war die Ursache, daß ich meine Lust, zu reden, seiner Begierde, zu weinen, aufopferte. Also, vor Durst meiner Wißbegierde noch lechzend, entfernte ich mich von diesem Geiste. Mein Führer trat auf den noch freyen Wegen immer längst des Berges behutsam vor mir her, so wie man auf hohen Mauergängen einherzugehen pflegt. Denn die Seelen, deren Augen das Uebel, welches die ganze Welt beherrscht, nun aufgelöset vom Schmerze, hier in heißen Thränen auströpfeln, liegen auf der andern Seite zu häufig hervor.

Dir fluche, verdammte Wölfinn, du Geiz, dir fluche dein ganzes Alter! Denn deine nie, nie sich sättigende Freßgier reisset mehr Raub an sich, als alle übrigen Thiere des Lasters. Ach! Himmel, durch dessen Bewegung die Umstände der Erde sich zu verändern 146 scheinen, o! wann wird der Mensch, der König, der Held, erscheinen, vor dessen wahrer Größe des Geistes dieses Unthier, der Geiz, endlich einmal fliehen wird?

Also giengen wir, aufmerksam auf die Schatten, mit langsamen und sparsamen Schritten einher. Auf das beweglichste hörte ich sie alle weinen und wehklagen. Und zufälligerweise hörte ich vor uns die Worte: Liebste Maria, so kläglich rufen, wie eine Mutter klagend rufet, welche in Kindesnöthen liegt. O! wie groß, fuhr diese Stimme fort, war nicht deine Armuth! Jene Herberge 135 beweist solches, wo du dich deiner heiligen Bürde entledigtest. - Und o! rechtschaffner Fabricius, hörte ich ferner rufen, wie edel wolltest du lieber arm und tugendhaft, als reich und lasterhaft seyn! An diesen Worten fand ich ein so wahres Vergnügen, daß ich zu dem Geiste, von dem sie herzukommen schienen, hervortrat, um mehr Kenntniß von ihm zu erlangen. Auch die Freygebigkeit 147 rühmte er, welche einst Nicolaus jenen jungen Frauenspersonen erzeigte, um ihre Jugend den Händen der Ehre zuzuführen. - O! Schatten, so redete ich ihn itzt an, dessen Mund so edle Beispiele verkündiget, o! sage mir, wer du in deinem Leben warest, und warum du allein diese würdigen Lobeserhebungen erneuerst. Deine Reden sollen nicht fruchtlos seyn, sobald ich wieder dort zurück seyn werde, wo ich den kurzen Lauf meines zu Ende eilenden Lebens noch vollenden muß.


Nicht wegen der Hülfe, antwortete er, die ich von dort her zu erwarten habe, nein, sondern um der vorzüglichen Gnade willen, welche sich an dir, einem noch nicht Gestorbenen, offenbaret, will ich dir sagen, was du verlangst. Ich war die Stammwurzel des bösen Baums, welcher alle Länder der ganzen Christenheit so nachtheilig beschattet, daß man selten gute Früchte daselbst erndtet. Allein wofern136 Douay, Gent, Ryßel und Brügge vermögend waren, so würde man bald Erfolge der Rache sehen. Ich selbst schreye zu dem um diese Rache, zu dem, der alles richtet. Ich hieß dort Hugo Capet. Von mir stammen die Philippe und Ludwige, Frankreichs Beherrscher der neuern Linie her. Ich war der Sohn eines Fleischers in Paris. Ich lebte zu der Zeit, als die alten Könige Frankreichs, einen 137 einzigen in grauen Kleidern 148 ausgenommen, alle ausgestorben waren. Ich sah damals das Ruder des Reichs in der Gewalt meiner Hände. Meine Macht an Gütern und Schätzen hatte sich aufs neue verstärkt. Und der Anwachs mächtiger Freunde machte dieselbe noch stärker. Daher ward das Haupt meines 138 Sohns mit der verwaisten Krone besetzt, von welchem also jene geheiligten Gebeine herstammen. So lange jener große 139 Brautschatz, die Provence, meinem Geschlechte das Andenken seiner unedlen Herkunft nicht entriß, war seine Macht nicht beträchtlich, aber auch sich und andern nicht nachtheilig. Allein hernach fieng es an, mit Gewalt, unter falschen Vorwänden, öffentlich zu rauben. Zur Verbesserung dieser Fehler riß es 140 hierauf Pontieu, die Normandie, und Cascogne an sich. Zur Verbesserung dieser neuen Fehler kam 141 Carl nach Italien, und 149 machte Conradins unschuldiges Blut zum grausamsten Opfer seiner Herrschsucht. Und zur Verbesserung dieses Fehlers schickte endlich eben dieser Carl jenen heiligen Thomas durch einen gewaltsamen Tod dem Himmel wieder zurück. Ja, ich sehe schon die nicht weit mehr entfernte Zeit, welche einen andern 142 Carl aus Frankreich hervorzieht, der seinen und der seinigen Character noch besser offenbaren wird. Ohne Macht der Waffen geht er aus. Blos die Lanze, welche einst Judas führte, ist seine ganze Stärke. Diese stößt er zuerst so tief in das Herz der Florentiner, daß er sie tödtlich damit durchbohret. Dann ersiegt er sich, nicht Länder, nein, Reichthümer von Lastern und Schande. Und diese werden für ihn desto beträchtlicher, je geringschätziger er allen Schaden achtet. Auch Carln, 143 den Zweeten, 150 der als ein Gefangener aus dem Schiffe trat, sehe ich seine leibliche Prinzessinn verkaufen, und sie, wie Seeräuber ihre Sklavinnen, verhandeln. O! Geiz, kannst du auch deine Niederträchtigkeit in meinem Geschlechte noch höher treiben, da du es so sehr an dich gezogen hast, daß es sogar sein eigenes Fleisch und Blut nicht mehr achtet? Allein wie fast gänzlich verschwindet alle zukünftige, alle vergangene Schande meines Bluts vor meinen gegenwärtigen Blicken! Ich sehe Frankreichs Lilien in Anagni eindringen, und Christum in seinem Statthalter gefangen nehmen. Ich sehe ihn das zweyte Mal verspottet. Ich sehe ihn aufs neue Essig und Galle darreichen. Ja, zwischen lebendigen Missethätern sehe ich ihn endlich ermordet. Alles dieses befriedigt ihn noch nicht, jenen neuen 144 Pilatus. Widerrechtlich und grausam sehe ich ihn sogar im Tempel rauben und morden. O! Gott, wann wird der frohe Anblick, wann wird die Rache erscheinen, welche dein langmuthsvoller Zorn in den geheimen 151 Tiefen deiner Weisheit noch verborgen hält? - Ich komme nunmehr auf das, was ich vorher jener Vermählten des heiligen Geistes zurief. Diese Stimme war es, welche dir Anlaß gab, daß du dich zu mir wandtest, und dein Verlangen nach einiger Erläuterung äusertest. Solche Stimmen verlangt also die Einrichtung unsers Gebeths, so lange der Tag dauert. Allein sobald die Nacht hereinbricht, beschäftigen wir uns mit gegenseitigen Beispielen. Dann ertönet unter uns das Beispiel 145 Pygmalions, dessen Begierde 152 nach Golde ihn zu einem Verräther, zu einem Straßenräuber und zu einem Mörder seines Blutsverwandten machte. Dann erschallt das Elend des geizigen Midas, welches auf seine ausschweifende Bitte erfolgte, die ihn stets als den größten Thoren beschämen muß. Dann erinnert sich ein jeder des thörigten Achans, der jene Beute entwandte, so lebhaft, daß der Zorn des Josua ihn noch hier zu strafen scheint. Dann klagen wir die Sapphira und ihren Ehemann an. Wir loben die Stöße, welche Heliodor davon trug. Und der ganze Kreis des Berges macht dem Polynestor, der den Polydor ermordete, Vorwürfe der äusersten Schande. Zuletzt hören wir einander rufen: O! Crassus, du hast das Gold gekostet, du kannst uns am besten den Geschmack desselben beschreiben! Zuweilen reden wir, der eine laut, der andre sachte, nachdem die Empfindung, dieser innere Sporn, uns antreibet, bald mit starker, bald schwacher Stimme zu reden. Daher war ich nicht der einzige, dessen Stimme vorher ganz allein jene edlen Beispiele ertönen ließ, mit denen wir uns den Tag hindurch unterhalten. Nein, sondern es fand sich nur keiner von den andern Schatten, der hier in der Nähe seine Stimme so vorzüglich erhob.

153 Schon hatten wir uns nunmehr von diesem Geiste entfernet. Schon bemüheten wir uns aus allen Kräften, diesen Weg bald zu endigen. Also geschäftig empfand ich plötzlich, daß der Berg, so wie wenn etwas fällt, sich ganz erschütterte. Hier ergriff mich ein kalter Schauer, gleich dem, der einen Menschen, welcher zu seinem Tode dahingeht, zu überfallen pflegt. So heftig ward selbst 146 Delos einst nicht erschüttert, ehe Latona daselbst ihr Bette aufschlug, um die beiden Augen des Himmels zu gebähren. Hierauf erhoben sich auf allen Seiten des Berges so ertönende Stimmen, daß mein Lehrer gegen mich näher herzutrat und sagte: Sey unbesorgt, so lange ich dein Führer bin. Sie sangen alle: Ehre sey Gott in der Höhe! Denn diese Worte konnte ich aus den nahen Stimmen deutlich vernehmen, daher sich alle die übrigen verstehen ließen.

Gleich jenen Hirten, welche diesen Gesang zuerst hörten, standen wir unbeweglich und ohne Entschließung, bis die Erschütterung aufhörte, und der Gesang zu Ende war. Hierauf giengen wir diese heilige Straße wieder fort, und betrachteten die auf der Erde liegenden Schatten, welche sich schon wieder mit der gewöhnlichen Vergießung ihrer Thränen beschäftigten. 154 Allein noch hat Unwissenheit wohl nie meine Wißbegierde so heftig aufgebracht, als sie, dafern ich meinem Gedächtnisse trauen darf, damals meinem Nachdenken zu seyn schien. Hiernächst hatte ich wegen der Eil nicht Muth gnug, zu fragen. Und ich selbst konnte mit den kühnsten Blicken nicht die geringste Ursache dieses Vorfalls entdecken. In solcher Verlegenheit gieng ich also schüchtern und ganz in Gedanken fort.

Ein und zwanzigster Gesang

Anmerkungen:

F135 S. den 7. V. des 2. Kap. des Ev. Lukas.

Dem Fabricius, diesem edlen Römer, wurden von den Samnitern und dem Könige Pyrrhus große Schätze angeboten, daß er sein Vaterland verrathen sollte. Er schlug sie aus, und gab zur Antwort: Die Römer suchen kein Gold, sondern die Herrschaft über die Besitzer des Goldes.

Nicolaus machte drey jungen Frauenzimmern, welche wegen ihrer Schönheit in Gefahr standen, ihre Ehre zu verlieren, heimlich ein reiches Geschenk von Golde, damit sie sich verheirathen konnten.
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F136 Diese Flandrischen Städte eroberte Phillipp, der Schöne, König von Frankreich, mit Gewalt.
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F137 Dieser ist vermuthlich Carl von Lothringen, dem damals die Thronfolge gehörte. Er soll, als ein einsamer und melancholischer Herr, stets in solcher Kleidung gegangen seyn. Den Franzosen war er verhaßt, daher sie den Hugo Capet zu ihrem Beherrscher erwählten.
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F138 Er hieß Robert, ein Herr von großen Eigenschaften, verehrt und geliebt von seinen Unterthanen.
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F139 Die Gemahlinn Ludwigs, des Heiligen, Königs von Frankreich, war eine Tochter des Grafen Raimund von Provence, daher Frankreich solches eroberte.
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F140 Diese Provinzen entriß Philipp der Zweete, König von Frankreich, dem Könige Johannes von Engelland.
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F141 Carl von Anjou ward vom Pabste für den König Siciliens erklärt, dessen rechtmäßiger Erbe, Conradin, zu Neapolis öffentlich enthauptet wurde. Eben dieser Carl soll den großen Gelehrten, den Thomas Aquinas, durch einen Arzt haben mit Gifte vergeben lassen.
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F142 Der andre Carl ist Carl von Valois, den der Pabst Bonifacius damals nach Florenz schickte, um die Partheyen der Weißen und Schwarzen zu vereinigen, der aber ihre Geissel ward. Mit den erpreßten Geldern wollte er Länder erobern. Allein er erwarb nichts, als Schande, und blieb Carl Ohneland.
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F143 Carl, der Zweete, war ein Sohn Carls von Anjou, oder Carls, des Ersten, Königs von Sicilien. Er ward von dem spanischen Admirale, Peters von Arragonien, dem Roger von Loria, geschlagen und gefangen. Nach seiner Befreyung gab er seine Tochter gegen eine große Summe Geldes dem Marggrafen von Ferrara, Azzo, dem Dritten, zur Gemahlinn.
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F144 Dieser neue Pilatus war Philipp, der Schöne, König von Frankreich. Er setzte seine Clerisey, zur Fortsetzung des Krieges, in Contribution, verurtheilte alle Tempelritter in seinem Reiche auf eine grausame Art zum Tode, und war zuletzt ein geschworner Feind und Verfolger des Pabsts Bonifacius, des Achten, welcher von den Franzosen damals in Anagni überfallen, einige Tage gefangen gehalten, und auf das empfindlichste in seinem päbstlichen Schmucke angegriffen ward, welches die Ursache seines Todes war. Dieser Pabst starb wie ein Hund, regierte wie ein Löwe, und ward Pabst wie ein Fuchs.
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F145 Pygmalion war König von Tyrus, und ließ aus Geiz den Gemahl seiner Schwester, der Elisa oder der Dido, einen sehr reichen Herrn, auf eine grausame Art umbringen.

Midas, ein Prinz des Cordus, und König in Großphrygien, erbat sich aus Geiz von seinem Gott die Gnade, daß alles, was er berühre, in Gold verwandelt werde. Es geschah, und er gerieth in die Gefahr, Hungers zu sterben, daher er bald um die Befreyung von diesem vermeyntlichen Glücke zu bitten genöthiget ward.

Vom Achan s. das 7. Kap. des B. Josua.

Von der Sapphira und ihrem Ehemanne, dem Ananias, s. das 5. Kap. der Apostelgesch.

Vom Heliodor das 3. Kap. des 2. B. der Maccab.

Vom Polynestor und dem Polydor s. die 127. Anmerk. des 1. Ged. von der Hölle

Crassus, der römische Triumvir, ein Herr von unermeßlichen Reichthümern, und von einem außerordentlichen Geize. Er ward im Kriege wider die Parther überwunden.Als sie ihn auf dem Schlachtfelde todt fanden, hieben sie ihm den Kopf ab, tauchten ihn in ein Gefäß voll flüßigen Goldes, und riefen: Hier sättige dich mit Golde, nach welchem du so geizig gedurstet hast!
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F146 Diese Insel des aegeischen Meeres ward von einem Erdbeben hervorgebracht, auf welcher Latona, oder die Nacht, das Chaos der Welt, ihre beiden Kinder, den Apollo und die Diana, oder die Sonne und den Mond, zur Welt gebahr.
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10.06.2006