Von der Hölle.
Vierter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante wird von einem schweren Gewitter aufgeweckt, und befindet sich in dem Thale von einem Abgrunde daselbst. Nun geht er mit dem Virgilius weiter fort, und steigt in den ersten Kreis der Hölle, oder in die Vorhölle, hinunter, wo sich die Seelen derer befinden, die ohne Taufe gestorben sind, oder die vor Christo gelebt, und Gott nicht auf die gehörige Art verehrt haben. Von da lassen sie sich in den andern Kreis der Hölle hinunter.

Ein schweres Donnerwetter schreckte mich, durch das Brausen im Kopfe, aus dem mächtigen Schlafe wieder auf, so, daß ich, gleich einem, der mit Gewalt aufgeweckt wird, ganz zusammen fuhr. Ich sah endlich aus meinen noch schlaftrunkenen Augen mit starren Blick umher, um den Ort zu erkennen, wo ich wäre. Und ich befand mich wahrhaftig auf dem äußersten Rande des Thals von dem traurigen Abgrunde, der von Donnern unendlicher Seufzer ertönet. Er war so dunkel, tief und nebelicht, daß ich, auch durch die schärfsten Blicke hinunter, nicht das geringste unterscheiden konnte.

Wohlan, fing Virgilius nun an, ward aber so blaß, wie eine Leiche, im Gesichte, laß uns nunmehro hier in die finstre Welt hinunter steigen! Ich will vorangehen, und du sollst mir folgen. Allein da ich seine Gesichtsveränderung gewahr wurde, sagte ich: O! wie will ich da zu rechte kommen, wenn du dich 30 entsetzest, da du bey meinem Zweifelmuthe meine einzige Stärkung zu seyn pflegest? Die Angst, antwortete er mir, und die Bangigkeit der hier unten sich befindenden Seelen mahlen schon in meinem Gesichte das Mitleiden ab, welches du für eine Furchtsamkeit hältst. Komm nur, wir müssen zugehen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns. Also ließ er sich, und also brachte er mich hinunter und in den ersten Kreis des Abgrundes hinein.

Hieselbst war, so wie man hörte, kein Weinen und Wehklagen, sondern nur wie so ein banges Aechzen und Seufzen, welches die ewigen schwülen Lüfte in eine ängstlich zitternde Bewegung setzte. Und solches rührte nicht von äußerlichen Martern, nein, blos von einem geheimen Seelenschmerze her, der alle die zahlreichen und großen Schaaren von Kindern, Weibern und Männern innerlich nagte. Hier sagte mein gütiger Lehrer zu mir: Und du frägst nicht einmal, was das für Geister seyn, die du hier siehst? Wohlan, so wisse demnach, noch ehe du einen Schritt weitergehest, daß sie nicht vorsetzlich gesündiget. Und wenn sie auch Verdienste haben, so ist dieses doch nicht hinreichend, weil sie der Taufe beraubt gewesen sind, die der Weg zu dem Glauben ist, den du bekennest. Da sie überdies vor dem Christenthume gelebt haben, so haben sie auch Gott nicht auf die gehörige Art verehret. Und unter diese Anzahl gehöre ich selbst mit. Durch dergleichen Mangel nun, und durch keine andere Verschuldungen, sind wir verlohren gegangen. Und nichts kränket uns mehr, als daß wir ohne alle Hoffnung im seufzenden Verlangen leben sollen.

31 Die innigste Wehmuth bemächtigte sich meines Herzens, da ich dieses hörete. Denn mir waren viele von diesen verdienstvollen Personen bekannt, die sich in dieser Vorhölle befanden, und in solchem Mittelzustande lebten. O sage mir doch, mein Lehrer, fing ich darauf an, um hierdurch zu einer völligen Gewißheit des Glaubens zu gelangen, der allen Zweifel und Irrthum besieget, sage mir, mein Herr: Kömmt denn nie eine Seele, entweder durch ihr eigenes Verdienst, oder durch das Verdienst eines andern aus diesem Kreise heraus, daß selbige hernach selig würde? Er verstand meine verdeckte Rede, und antwortete mir also:

Ich befand mich noch nicht lange in diesem Zustande, als ich einen mächtigen mit Siegeszeichen gekrönten Held triumphirend hier bey uns seinen Einzug halten sahe. Dieser nahm die Seele des Stammvaters der Menschen, seines Sohns Abel, und die Seele des Noah, den Gesetzgeber Moses, den gehorsamen Patriarchen Abraham, den König David, und Israel mit seinem Vater, seinen Kindern und der Rahel, um welcher willen dieser so vieles that; alle diese Seelen, und noch viele andere nahm er mit sich, und machte sie selig. Denn du mußt wissen, daß noch kein menschlicher Geist vor diesen himmlisch selig gewesen ist.

Wir blieben, während er so redete, nicht stille stehen, sondern giengen immer in dem geistervollen Walde fort. Wir waren noch nicht weit von jenem Orte des schrecklichen Schlafes weg, als ich ein Feuer erblickte, welches den ganzen dortigen Horizont erleuchtete. Wir befanden uns zwar noch in einiger Entfernung davon, die jedoch nicht so groß war, daß 32 ich nicht einigermaßen hätte unterscheiden können, daß ein ehrwürdiges Volk diesen Ort in Besitz hatte. O du Verehrer und Zierde aller Künste und Wissenschaften, rief ich hierauf, wer sind diese, welche so viel Ehre und Vorzüge haben, die sie von der Beschaffenheit der andern so unterscheiden? Der ehrfurchtsvolle Ruf, antwortete er mir, der in der Welt, wo du lebest, von ihnen erschallet, macht, daß sie der Himmel mit solchen Vorzügen begnadiget. Unterdessen hörte ich eine Stimme, die rief: Bewillkommet den großen Dichter mit Ehrenbezeugungen! denn er kömmt wieder von seiner Reise zurück. So bald die Stimme inne hielt und stille war, sah ich vier große Geister auf uns zu kommen. Sie sahen weder traurig, noch frölich aus. Siehe, sagte hier mein gütiger Lehrer, der, welcher mit dem Degen in der Hand die übrigen drey gleichsam als Feldherr aufführet, dieser ist das Haupt aller Dichter, Homerus. Der andre, der nach ihm kömmt, ist der Satirenschreiber Horaz. Ovidius ist der dritte. Und der letzte ist Lukan. Da nun ein jeder mit mir gleichen Ehrennamen führet, den allein so eben die Stimme erschallen ließ, so erweisen sie mir diese Ehre, und thun hierinn in so weit nicht unrecht. So sah ich die schöne Schule des größten Meisters der heroischen Dichtkunst, der gleich einem Adler über alle andere erhaben ist, zusammen kommen. Erst sprachen sie ein wenig mit einander. Darauf wandten sie sich zu mir, und grüßten mich, ohne zu reden, und er, mein Lehrer, lächelte seinen Beyfall hierzu. Ja, sie bezeigten mir noch weit mehr Ehre. Denn sie nahmen mich sogar mit in ihr Gefolge, so, daß ich nunmehro die sechste Person unter diesen so großen Geistern war. Also giengen wir bis nach dem Lichte zu, und 33 redeten unterweges Sachen, von denen hier zu schweigen eben so schön ist, als dort davon zu reden war.

Endlich kamen wir unten an ein prächtiges Schloß, welches siebenfache hohe Ringmauern hatte, und rings herum mit einem anmuthigen kleinen Flusse umgeben war. Ueber diesen giengen wir, wie über festes Land, hinüber: Durch sieben Thore gieng ich mit diesen Weisen, und wir kamen endlich auf eine mit einem frischen Grün bekleidete Wiese.

Hier befanden sich Leute von gesetzten und ernsten Blicken, und von einem majestätischen Ansehen. Sie redeten wenig, und mit einer liebreichen Stimme. Wir machten uns also auf der einen Seite an einen freyen und erhabenen Ort, wo man alle, so viel ihrer waren, recht in Augenschein nehmen konnte.

Dort, auf dem grünen und blumigten Gefilde, wurden mir die großen Geister gezeiget, mit welchem Glücke, daß ich selbige gesehen, ich mich recht inniglich brüste. Ich sahe die 008 Elektra in einer zahlreichen Gesellschaft, 34 unter denen ich den Hektor, den Aeneas, und den kriegerischen Cäsar mit seinen Falkenaugen erkannte. Auf der andern Seite sah ich die Camilla und die Penthesilea. Ich sah den König Latinus, der mit seiner Tochter, der Lavinia, da saß. Den Brutus sah ich, der ehemals den Tarquin verjagte, die Lukrezia, die Julia, die Marzia und die Cornelia, und abseits ganz allein den Saladinus. Und als ich etwas weiter umher schauete, sah ich das Oberhaupt aller Weltweisen unter dem philosophischen Geschlechte sitzen. Alle bewundern und verehren ihn. Hier sah ich auch den Sokrates, und den Plato, welche beyde vor allen andern ihm vorzüglich näher stehen. Da war Demokritus, welcher behauptet, die Welt sey von ungefähr entstanden, Diogenes, Anaxagoras, Thales, Empedokles, Heraklitus, Zeno und der vortreffliche Naturforscher, den Dioskorides meyne ich. Weiter sahe ich den Orpheus, den Tullius, und Linus, und den Sittenlehrer Seneka; den Mathematiker, 35 Euklides, und den Ptolemäus; den Hippokrates, den Avicenna, den Galenus, den Averroes, der das große Auslegungswerk verfertiget hat. Und ich bin nicht im Stande, eine vollständige Beschreibung von allen zu machen, weil ich zu sehr befürchte, es möchte selbige zum öftern der Sache selbst nicht beykommen.

Die Gesellschaft von Sechsen verminderte sich nun bis auf Zwey. Mein weiser Führer führte mich durch einen andern Weg aus dem stillen in den stürmischen Luftkreis. Und ich kam in eine Gegend, wo alles mit Dunkel und Finsterniß überzogen ist.

Fünfter Gesang

Anmerkungen:
H008 Elektra, eine Prinzessinn der Königinn von Italien, Atlanta, deren Prinz Dardanus Stifter von Troja war, und von dem die Helden Hektor, Aeneas, und Cäsar abstammen. Camilla, die kriegerische Königinn der Volscer, die für den Turnus stritte, und deren Löwenherz das Rutulische Heer so beherzt, als ihr Tod es niedergeschlagen machte. Penthesilea, Königinn der Amazonen, die den Troianern im Kriege wider die Griechen beystand, und vom Achilles getödtet ward. Lavinia, die erst dem Turnus, Könige der Rutuler, versprochen, hernach dem Aeneas zur Gemahlinn gegeben ward. Brutus, der den Römischen König, Tarquin den Hochmüthigen, aus Rom verjagte, und dem Vaterlande die Freyheit wieder verschaffte. Lukrezia, die keusche Gemahlinn des Collatinus, die vom Sextus Tarquinius, dem Prinzen Tarquinius des Hochmüthigen, mit List und Gewalt entehret wurde, weswegen sie, zum Beweise ihrer Unschuld, sich selbst das Leben nahm. Julia, Cäsars Tochter, und Gemahlinn des großen Pompejus. Marzia, Gemahlinn des Cato von Utika. Cornelia, Tochter des Scipio Africanus, und Gemahlinn des Gracchus, eine Dame von seltner Klugheit und Beredtsamkeit. Saladin, Sultan von Babylonien, der mit Guido, Könige von Jerusalem, Krieg führte, ihn in einer Schlacht überwand, gefangen nahm, und ihn des Reichs beraubte. Das Oberhaupt der Weltweisen ist Aristoteles, über alle dessen Werke Averroes, ein Araber, das große Auslegungswerk geschrieben hat. Die übrigen sind als große Gelehrten zur Gnüge bekannt.
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10.06.2006