Von der Hölle.
Zehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante folgt seinem treuen Führer durch die Höllenstadt, sieht den Farinata der Uberti, mit dem er sich unterredet, und der ihm vorherverkündiget, daß er aus seinem Vaterlande werde verbannet werden. Hierauf kehret er wieder zum Virgilius zurück, und setzt seine Reise weiter mit ihm fort.

Nun giengen wir durch einen geheimen schmalen Weg, zwischen der Mauer des Orts und den Marterplätzen, mein Lehrer voran, und ich dicht hinter ihm, fort. O! du großer Geist, fieng ich an, du führest mich nun, wie es dir gefällt, durch die Kreise der Gottlosen so herum, o rede mit mir, und stille mir auch mein sehnliches Verlangen: Kann man das Volk, so in den Gräbern hier liegt, nicht sehen? Schon sind die Grabsteine alle aufgehaben, und ist auch keine Wache dabey. Aber dann werden sie, antwortete er mir, alle zugeschlossen werden, wann ihre Seelen aus dem Thale Josaphat, mit ihren Leibern, die sie dort oben gelassen haben, vereiniget, wieder hieher kommen werden. Epicurus und alle seine Anhänger, welche die Seele mit dem Leibe für sterblich halten, haben auf dieser Seite ihren Begräbnißplatz. Du wirst also in Ansehung sowohl der Frage, die du an mich gethan, als auch des Verlangens, das du mir verschweigst, 026 hier bald 72 befriediget werden. Gütiger Führer, sagte ich, ich halte mein Herz keineswegs vor dir verborgen, außer daß ich nur wenig rede, und du hast mich nicht iztund erst hierzu geschickt gemacht.

O! Toskaner, der du noch lebend durch die brennende Stadt hindurch gehest, und so anständig redest, verziehe doch ein wenig an diesem Orte! Deine Sprache verräth dich, daß du aus jenem edlen Vaterlande gebürtig bist, dem ich vielleicht zu überlästig gewesen bin. - Diese Rede schallte plötzlich aus einem von den Gräbern hervor. Vor Furcht machte ich mich etwas näher zu meinem Führer hin. Allein er sagte zu mir: Kehre dich um, was machst du? Farinata 027 ists, der sich aufgerichtet hat. Von der Feldbinde an bis an das Haupt wirst du ihn ganz sehen. Schon war mein Gesicht auf das seinige gleichsam wie geheftet. Er richtete sich mit der Brust und mit dem Gesichte in die Höhe, als hielte er die Hölle für sehr verächtlich. Und die lebhaften und fertigen Hände meines Führers trieben mich zwischen den Gräbern, und blos mit den Worten zu ihm hin: Rede bedachtsam.

So bald ich unten an seinem Grabe war, sahe er mich ein wenig an, und hierauf fragte er mich, wie ganz ungehalten: Wer waren deine Vorfahren? - Ich, vor Verlangen zu gehorchen, verschwieg ihm nichts, sondern offenbarte ihm alles. Deswegen drehete er die Augen ein wenig in die Höhe, und sagte alsdenn: Sie waren mir, meinen Vorfahren und meiner Partey, grausam 73 waren sie uns abgeneigt, so, daß ich sie zu zweyen Malen zerstreuete. - Wenn sie auch, antwortete ich ihm, verjagt wurden, so kamen sie das eine und das andere Mal doch von allen Seiten wieder. Allein die Eurigen hatten diese Kunst nicht sonderlich gelernet.

Hierauf kam ein Schatten 028 neben diesem mit völligem Gesichte bis ans Kinn zum Vorschein. Ich glaube, daß er sich kniend aufgerichtet hatte. Er sahe rings um mich herum, als wollte er sehen, ob jemand bey mir wäre. Allein, da seine Muthmaßung völlig verschwand, so weinte er und sagte: Wenn du aus Größe des Geistes diese verborgenen Gefängnisse durchwandelst, wo ist mein Sohn, und warum ist er nicht bey dir? Von mir selbst, antwortete ich, komme ich nicht hieher. Der, welcher dort wartet, führet mich hierdurch, und gegen den hatte vielleicht euer Guido 029 keine sonderliche Achtung. Denn seine Worte, und die Art der Strafe sagten mir so gleich seinen Namen, und darum war meine Antwort so vollständig. Plötzlich richtete er sich auf und schrie: Wie sagtest du, er hatte? - so lebt er nicht mehr? - so genießen seine Augen das erquickende Weltlicht nicht mehr? - Und da es sich fügte, daß ich mit der Antwort ein wenig verzog, so fiel er hinter sich zurück, und kam nicht wieder zum Vorschein. 74

Allein der andere heldenmüthige Geist, um dessentwillen ich da geblieben war, veränderte sein Gesicht im geringsten nicht, machte auch weder mit dem Halse, noch mit dem Leibe die mindeste Bewegung und Beugung. Und daß sie, sagte er, indem er auf die vorige Rede zu antworten fortfuhr, daß sie jene Kunst übel verstanden, das, das quält mich itzt mehr, als dieses traurige Bette. Allein nicht funfzigmal 030 mehr wird das Angesicht der Regentinn, die hier herrschet, von neuem entflammt erscheinen, so wirst du erfahren, was für empfindliche Schmerzen diese schwere Kunst verursache. Und im Fall du itzt auf jener angenehmen Welt regierest, so sage mir nur, warum das Volk in jedwedem seiner Gesetze so hart wider die Meinigen verfährt. Die Niederlage, antwortete ich ihm hierauf, und das grausame Verfahren, die Arbien so blutig färbten, die verursachen dergleichen Reden in unserm Tempel. Hier seufzte er, schüttelte den Kopf, und sagte: Hierzu ward nicht ich allein, auch wäre ich gewiß ohne Ursache mit den andern nicht so weit gebracht worden. Dort aber, wo 031 sichs ein jeder 75 gefallen ließ, Florenz von Grund aus zu zerstören, da war ich allein der, welcher es frey und öffentlich rettete. - O! dafür müsse, sagte ich, deine Nachkommenschaft des Friedens genießen. - Itzt bitte ich dich, löse mir doch den Zweifel auf, der mich hier in meiner Meynung ganz irre gemacht hat. Es scheint, wo ich anders recht gehört habe, daß ihr das vor euch sehet, was erst mit der Zeit erfolgen soll, und daß, in Ansehung des Gegenwärtigen, es sich ganz anders mit euch verhalte.

Wir sehen, sagte er, wie einer, der kein scharfes Gesicht hat, die Sachen nur in ihrer Entfernung; so großmüthig scheinet uns noch die höchste Vorsehung! Denn wann sie sich nähern, oder da sind, so ist unser Verstand an Erkenntniß ganz verlegen; und wenn andere uns nichts hinterbrächten, so wüßten wir von euren menschlichen Umständen gar nichts. Also kannst du leicht begreifen, daß unsre Erkenntniß von dem Augenblicke an ganz erstirbt, so bald die Thüre des Zukünftigen verschlossen wird. Hierauf sagte ich, wie von meiner eigenen Schuld beschämt: O! so benachrichtiget doch jenen Gefallenen, daß sein Sohn noch unter den Lebendigen sich befindet, und daß ich deswegen vorher zur Antwort stumm war, weil ich schon nach dem Irrthume urtheilte, den ihr mir nun benommen habet.

Und schon rief mich mein Lehrer wieder zurück. Um desto inständiger bat ich also den Geist, daß er mir sagen möchte, wer sich mehr bey ihm befände. Hier liege ich, sagte er, mit mehr, als tausend andern. 76 Unter diesen ist der andre 032 Friedrich, und der Cardinal, und die übrigen will ich nicht nennen. Hierauf verbarg er sich. Und ich kehrte wieder zu dem alten Dichter zurück, und überdachte die Reden, die mir feindselig vorkamen.

Sofort machte er sich auf. Und hernach, so im Gehen, sagte er zu mir: Warum bist du so verstört? worauf ich ihm sein Verlangen befriedigte. Behalte alles wohl, was du wider dich gehöret hast, befahl mir der Weise, und itzt gieb hier Achtung, und wies mit dem Finger in die Höhe. Wenn du dort vor dem erquickende Glanze derjenigen befinden wirst, deren vollkommenes Auge alles sieht, da, von der wirst du die dir noch übrige Reise deines Lebens erfahren. Hierauf wandte er sich nach der linken Hand. Wir verließen die Mauer, und giengen gegen die Mitte zu auf einem Fußsteige, der an ein Thal streifet, das bis ganz oben hinauf seinen übeln Geruch verbreitete.

Eilfter Gesang

Anmerkungen:

H026 Dante wollte gerne die Personen sehen, die er hernach sahe, weil er wußte, daß es Epicuräer gewesen waren.
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H027 Farinata war Feldherr der Gibellinen in der Arbischen Schlacht, wo die Welfen eine grausame und gänzliche Niederlage erlitten. Und Dante war ein Welfe.
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H028 Dieser Schatten war Cavalcante Cavalcanti, eines von den Häuptern der Welfen.
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H029 Guido war ein großer Philosoph, aber kein sonderlicher Freund der Poesie.
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H030 Nicht funfzig Monate werden völlig verfließen, oder, nicht funfzigmal mehr wollen wir vollen Mondschein haben; denn Proserpine, die Königinn der Hölle, wird im Himmel der Mond genennet. Denn wirst du also ins Elend verjagt werden, und auch erfahren, wie schwer es halte, wieder in sein Vaterland zurückzukehren, und was das für ein unglückseliger Zustand sey, so entfernt, und zwischen Furcht und Hoffnung, und fremder Gnade zu leben.
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H031 Diese Zerstörung ward von einem General in Vorschlag gebracht, von allen Gibellinen, theils aus Niederträchtigkeit, theils aus Rache gebilliget, und von dem einzigen Farinata edelmüthig hintertrieben.
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H032 Friedrich, der andre, Römischer Kaiser, ein Vertheidiger der Gibellinen, den Pabst Gregor, der neunte, in Bann that, und mit dem Thiere voll Lästerung aus der Offenbarung verglich, wofür Friedrich Gregoren den Antichrist nennte, und in Campanien einige Anverwandten des Pabsts aufhängen ließ. Der Cardinal war Octavian Ubaldini, ein Feind des Päbstlichen Ansehens, und so sehr ein Freund der Gibellinen, daß er einmal sagte: wenn Seelen wären, so habe er die seinige für die Gibellinen verloren. Denn er war auch ein Epicuräer.
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