Von dem Paradiese.
Vierter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Beatrix sucht einige Schwierigkeiten aufzulösen, welche den Dichter in Verlegenheit setzen. Sie zeigt ihm, wie alle Seligen in dem empyreischen Himmel ihren Sitz haben. Dann offenbart sie ihm noch andere Wahrheiten. Endlich legt Dante seiner Führerinn die Frage vor: Ob man für die nicht erfüllten Gelübde auf irgend eine Art gnugthun könne.

Zwischen zwo gleich fernen und reizenden Speisen müßte ein freyer Mensch eher Hungers sterben, als er die eine vorzüglich vor der andern wählen und genießen würde. So würde ein Lamm zwischen zween raubbegierigen Wölfen, aus gleicher Furcht vor beiden, sich nicht retten. So würde ein Hund zwischen zween Hirschen, aus gleicher Unentschlossenheit, keinen von beiden verfolgen.

Eben so ward ich von zween gleich starken Zweifeln bestritten. Daher war mein Stillschweigen nothwendig. Und aus dieser Ursache kann ich es weder tadeln, noch loben. Ich schwieg. Allein meine Wißbegierde offenbarte sich auf meinem Gesichte, und drückte mein noch heißeres Verlangen zu fragen, weit deutlicher aus, als durch Worte. Itzt handelte Beatrix gleich dem 017 Daniel, als er einst den Zorn tilgte, welcher den Nebucadnezar auf eine so ungerechte 25 Art entrüstet hatte. Ich sehe wohl, sagte sie, wie sehr dich eine doppelte Begierde beunruhiget. Ich sehe, wie fest deine Sehnsucht sich selbst fesselt, so, daß sie nicht mündlich hervorbricht. Du schließest also: Wenn der Hang zur Erfüllung eines Gelübdes in mir fortdauert, wie kann ein gewaltthätiges Hinderniß mir den Antheil meiner Belohnung verringern? Dann giebt der Anschein, daß die Seelen, nach der Meynung des Plato, in ihre Sterne zurückkehren, dir neuen Anlaß, zu zweifeln. Dieß sind die beiden Zweifel, welche dein Innerstes mit gleicher Stärke bestreiten. Daher will ich den, der mehr Gift bey sich führt, zuerst zernichten.

Nicht der herrlichste Seraph, der vor allen übrigen seraphinischen Geistern sich vorzüglich nach Gott bildet, nicht Moses, nicht Samuel, nicht Johannes, weder der Täufer, noch der Evangelist, selbst nicht Maria, haben ihren Sitz in einem andern Himmel, als der die Geister beseligt, welche dir vor kurzem erschienen. Auch sind die Seligen unter einander nicht älter, nicht jünger. Sie alle verherrlichen die Schönheit jenes ersten Himmels. Nur ihre stärkere und schwächere Empfindung der ewigen Herrlichkeit bestimmt den Unterschied ihres seligen Lebens. Hier auf dieser niedern Sphäre zeigten sich dir die Geister, nicht, das ihnen dieselbe zu ihrem Aufenthalte zugetheilt sey, sondern dir dadurch auf eine sinnliche Art die Seligkeit begreiflich zu machen, welche sie in jenem empyreischen Himmel in einem minder erhabenen Grade gewesen. Also muß man nach eurer Einsicht reden. Denn eure sinnliche Erkenntniß ist der Grund 26 und Ursprung der höhern Erkenntniß eures Verstandes. Dies ist die Ursache, warum die heilige Schrift sich also zu euren sinnlichen Kräften herabläßt, und Gott Hände und Füße zueignet, ob sie gleich ganz andere und höhere Begriffe mit solchen Ausdrücken verbindet. Eben daher stellt euch auch die heilige Kirche den Gabriel, den Michael, und jenen Engel, der den Tobias wieder sehend machte, unter dem Bilde eines Menschen vor. Allein jene Sprache, welche 018 Timeus von den Seelen führt, hat keine Gleichheit mit dem Bildlichen, das man hier sieht. Denn es scheint, daß er alles nach dem eigentlichen Sinne seiner Ausdrücke verstehe. Er behauptet, die Seele kehre in ihr Gestirn zurück, weil er glaubt, sie sey einst von solcher Höhe entfernt worden, als die Natur sie mit ihrem Körper vereinigte. Vielleicht ist auch sein Lehrsatz anders, als nach den Worten desselben, zu verstehen, und kann also verstanden werden, daß er keinesweges zu verwerfen ist. Ist seine Meynung diese, daß auf die Gestirne aller Ruhm und aller Tadel ihres Einflusses zurückkehre 019, so trifft vielleicht der Pfeil seines Bogens einigermaßen das Ziel der Wahrheit. Allein 27 dieser übel verstandene Grundsatz verführte einst fast die ganze Welt, daß sie sich sogar bis zur Anbetung des Jupiters, des Merkurs, des Mars und anderer Gestirne, abgöttlich verleiten ließ.

Der andre Zweifel, der dich beunruhiget, führt weniger Gift bey sich. Das Bösartige desselben kann dich nicht von mir auf Irrwege verleiten. Unsre Gerechtigkeit 020 scheint in den Augen der Sterblichen ungerecht zu seyn. Dieser Zweifel ist vielmehr ein Kennzeichen 021 des Glaubens, als einer irrgläubigen Bosheit. Er verbirgt eine Wahrheit welche euer Verstand bis zur Einsicht derselben hindurchdringen kann. Und daher will ich dein Verlangen nach ihr befriedigen.

Nur dann geschieht dem Menschen Gewalt, wann er, der leidet, dem, der ihn zwingt, im geringsten nichts einwilliget. Daher konnten jene 022 zwo Seelen mit einer solchen Gewaltthätigkeit sich nicht entschuldigen. Denn der Wille läßt sich durch keinen Zwang zernichten. Nein. Seine Natur gleicht der 28 Natur einer Flamme, welche kämpft, und siegend zurückkehrt, wenn sie auch zu unzähligen Malen von der Gewalt bestürmt wird. Neigt er sich also von selbst, es sey viel oder wenig, so folgt er insoweit freywillig der Gewalt. Auf diese Art handelten jene Seelen, welche in die heiligen Mauren zurückkehren konnten. Wäre ihr Wille vollkommen schlüßig gewesen, so würde er sie, befreyet vom Zwange, sogleich nach der Straße des Aufenthalts zurückgetrieben haben, dem sie entrissen wurden. So fest entschlossen blieb der heilige 023 Laurentius auf jenem glüenden Roste. Eine solche Entschlossenheit war die Ursache jener Strenge des 024 Mutius gegen seine eigene Hand. Allein ein so standhafter Wille ist eine nur gar zu seltene Sache. Hast du nun diese Gründe mit gehöriger Aufmerksamkeit angehöret, so werden sie den Zweifel gänzlich zernichtet haben, der dich sonst noch oft beunruhigt haben würde.

Allein itzt sehe ich dein Auge einen neuen Irrweg erblicken, auf welchem du dich eher ermüden, als von selbst einen Ausgang finden würdest. Ich habe deinem Verstande die Gewißheit eingeschärft, das eine selige Seele nicht die geringste Unwahrheit sagen könne, weil sie stets aus der ewigen Quelle der 29 Wahrheit schöpfet. Nun hast du selbst aus dem Munde der Piccarda vernommen, daß Constantia einst die Zuneigung zu dem geistlichen Schleyer behalten habe. Und also scheint es, daß ihr Ausspruch meinen angeführten Gründen widerspreche.

Wie oft, mein Bruder, hat sich nicht in der Welt der Fall ereignet, daß ein Mensch, zur Vermeidung einer Gefahr, wider seine Neigung das gethan hat, was er nicht thun sollte. Also ward 025 Alkmäon, auf die Bitte seines Vaters, der Mörder seiner leiblichen Mutter. Aus Mitleiden handelte er grausam. Der Zwang mischt sich in den Willen, und beide bringen solche Beleidigungen hervor, die sich nicht entschuldigen lassen. Dieß ist der Hauptumstand, auf welchen du dein Augenmerk richten mußt. Denn der unbedingte Wille willigt an und vor sich nicht in das Uebel. Allein in so weit willigt er in dasselbe, als er befürchtet, es möchte aus seinem Widerstande ein größeres Uebel erfolgen. Daher redet Piccarda in jenem Ausspruche von dem unbedingten Willen, ich dagegen rede von dem bedingten Willen, und im Grunde reden wir beide die Wahrheit.

Also, gleich einem rieselnden Bache, ertönten die Worte der heiligen Weisheit, welche aus der ursprünglichen Quelle aller Wahrheit entspringet. Und so ward durch sie das doppelte Verlangen meines Geistes beruhigt.

O du geliebte der ewigen Liebe, o! göttliche Schöne, sagte ich hierauf, deine Rede erfüllt meinen 30 Verstand mit so erhabener Erkenntniß, und mein Herz mit einem Feuer so heiliger Triebe, daß ich mehr, als ein Leben fühle! Möchte ich nur vermögend seyn, deine Liebe mit gleicher Liebe zu vergelten! Allein jener Allwissende und Allmächtige wird dir diesen Mangel verhältnißmäßig ersetzen. Wie untrüglich sehe ich nunmehr, daß unser Verstand sich nie sättiget, wenn ihn nicht die Wahrheit erleuchtet, außer welcher nirgends Wahrheit zu finden ist. Sobald er diese erreicht hat, ruhet er so sicher in ihrem Schooße, wie das Wild in seinen sichern Hölen. Und ist sein sehnliches Verlangen nach ihr nicht vergebens, so kann er sie erreichen. Durch diese Wißbegierde keimt der Zweifel, gleich einem Sprößlinge, an der Wurzel der Wahrheit. Und die Natur ist es, welche uns von einer Höhe zu der andern, bis zu dem höchsten Gipfel der Wahrheit empor führet. Und dieses natürliche Verlangen reizt mich aufs neue, und erlaubt mir, an dich, o! Selige, eine freymüthige, doch ehrfurchtsvolle Bitte. Ich sehne mich nach dem Lichte einer andern mir dunkeln Wahrheit. Mich dringt die Begierde, zu wissen, ob ein Mensch die mangelhafte Erfüllung seiner Gelübde durch andere gute Handlungen so gnugthuend ersetzen könne, daß diese auf der göttlichen Wage nicht zu leicht wiegen.

Itzt sah mich Beatrix an. Und ihre Augen funkelten so göttlich von Liebe, daß ich, von dem Glanze ihrer Blicke geblendet, mich wandte, und mit niedergeschlagenem Gesichte in die äuserste Verlegenheit gerieth.

Fünfter Gesang

Anmerkungen:

P017 S. das 2. Kap. des Proph. Daniel.
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P018 Timeus, ein Gespräch des Plato von der Schöpfung der Welt, welches diesen Titel von dem Timeus, einem Philosophen aus Locris, führet.
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P019 Weil nach solcher astrologischen Meynung die Gestirne durch ihre guten oder bösen Einflüsse den Menschen entweder zu guten oder bösen Neigungen reizen, über welche jedoch die Vernunft, der freye Wille und die Gnade Gottes die Herrschaft behalten.
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P020 Es scheint den Sterblichen, als belohne die Gerechtigkeit des Himmels diejenigen zu wenig, welche der Zwang verhindert, ihr Gelübde zu erfüllen, und in deren Seelen der Hang zur Erfüllung desselben fortdauert.
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P021 Denn sie zweifeln nicht aus Bosheit, sondern wünschen vielmehr, von solchem Zweifel befryet zu werden, weil sie überzeugt sind, daß Gott gerecht ist, und dieser Schein und Zweifel sie nur störet.
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P022 Piccarda und Constantia.
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P023 Also gebraten müsste er unter dem Kaiser Decius den Märtyrertod leiden.
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P024 Ein junger, römischer Bürger, der seine eigene Hand verbrannte, weil sie den Porsenna, den König der Elusier, der damals Rom bekriegte, und den er umbringen wollte, verfehlt hatte.
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P025 S. die 86. Anmerk. des 2ten Ged. von dem Fegfeur.
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