Von dem Paradiese.
Funfzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Cacciaguida empfängt dem Dichter sehr liebreich, und zeigt ihm, daß er der Vater des Alighieri sey, von dem ihre Familie diesen Zunahme angenommen hat. Hierauf schildert er ihm die Sitten, welche zu seinen Zeiten in Florenz herrschten. Endlich beschreibt er ihm, wie er unter dem Kaiser Conrad wider die Türken für den christlichen Glauben gefochten habe, und gestorben sey.

Ein gütiger Wille, in dem die wahre Liebe, wie in dem bösen die falsche, sich stets offenbaret, gebot jeden reizenden Tönen ein Stillschweigen, und brachte die heiligen Saiten, gestimmt von der Hand des Himmels, zu einer ruhigen Stille. Wie hätten daher jene seligen Geister gegen meine Bitten taub seyn können, sie, die alle einstimmig schwiegen, um mir dadurch Lust einzuflößen, sie zu bitten. Wer sich also aus Liebe zu einer Sache, die von keiner ewigen Dauer ist, jener wahren Liebe beraubet, der verdient, daß er ewig dafür leide.

So wie in heitern und stillen Nächten zuweilen plötzlich ein Glanz die Luft hindurchstrahlet, welcher das Auge von seinen sichern Blicken auf sich zieht, und ein Stern zu seyn scheint, der seinen Ort verändert, in der Gegend aber, wo er sich entzündet, sich keiner verliert, und er selbst bald verschwindet - eben so sah ich von dem Aeusersten der rechten Seite 106 jenes Kreuzes einen von den dort glänzenden Sternen bis zu dem Fuße desselben herabstrahlen. Allein dieser Edelstein verlor sich keinesweges aus dem Schmucke seines Bandes, sondern funkelte den strahlenden Streif so prächtig hindurch, daß er wie Feuer hinter durchscheinendem Albaster glänzte. - O! zärtliche Scene! - So zärtlich konnte sich nur, dafern die Muse unsers vorzüglichen 160 Dichters Glauben verdienet, der Schatten des Anchises bezeigen, als er einst seinen 161 Sohn in den elisäischen Feldern erblickte. - O! mein 162 Blut! - O! überschwengliche Gnade Gottes! - O! wem ist jemals, wie dir, die Thüre des Himmels zweymal geöffnet worden? - Also rief jenes 163 selige Licht mir entgegen. Dieß heftete meine ganze Aufmerksamkeit auf dasselbe. Dann wandte ich mein Gesicht nach meiner Gebieterinn, und gerieth hier und dort in Verwunderung und Erstaunen. Denn aus ihren Blicken flammte eine so lachende Freude, daß ich in derselben meine wahrhafte Begnadigung und mein Paradies zu erblicken glaubte. Hierauf setzte der Geist, der mein Auge und Ohr reizte, seine angefangene Rede fort, die aber mein Verstand wegen 107 ihres erhabenen Inhalts nicht faßte. Also ward er mir, nicht aus Vorsatz, sondern aus Nothwendigkeit, dunkel. Denn die Ausdrücke seiner Gedanken überstiegen das Ziel der Einsicht sterblicher Menschen. Sobald daher der Bogen seiner inbrünstigen Liebe sich seiner erhabenen Pfeile in so weit entlediget hatte, daß die Ausdrücke seiner Rede sich gegen das Ziel des menschlichen Verstandes herabneigten, waren die ersten Worte, welche ich verstand, diese: Heilig bist du, Dreyeiniger, der du dich in 164 meinem Saamen so gnädig bezeigest! Du, mein Sohn, also fuhr er fort, hast mein reizendes und langwieriges Verlangen, geschöpft aus jenem großen Buche, dessen ewiger Inhalt stets unveränderlich ist, solches hast du endlich in diesem Lichte, aus dem ich mit dir rede, durch die Gnade derjenigen gestillet, welche zu einem so hohen Fluge dich also beflügelte. Du glaubest, daß ich deine Gedanken in jenem Ursprung alles Lichts erkenne, so wie man , zum Beyspiele, aus der erkannten Zahl Eins die Zahl Fünf 165 und Sechs ursprünglich erkennet. Daher frägst du mich nicht, weder wer ich sey, noch warum ich vor allen andern Gliedern dieser frohen und zahlreichen Gesellschaft, eine so vorzügliche Freude gegen dich blicken lasse. Du glaubst die Wahrheit, daß die kleinern und größern 108 Geister des ewigen Lebens in den Spiegel schauen, in welchem alle Gedanken, noch ehe sie entstehen, sich offenbaren. Allein damit die heilige Liebe, in der ich durch ein unaufhörliches Schauen stets wache, und die meine reizende Sehnsucht anfacht, sich noch vollständiger entzünde, so laß itzt die Stimme deines Willens, so laß itzt die Stimme deines Herzens, zu deren Befriedigung meine Antwort schon beschlossen ist, sicher, freymüthig und froh ertönen.

Ich wandte mich zur Beatrix. Sie hörte mich, ehe ich noch redete, und lächelte mir einen Wink zu, welcher das Wachstum der Schwingen meines Verlangens so schnell beförderte, daß ich also redete:

Sobald euer seliges Auge die vollkommenste Gleichheit schauete, welche in Gott herrschet, wurde Liebe und Erkenntniß in einem jeden von euch von gleichem Gewichte. Denn beide glänzen in der Sonne, die euch mit ihrem feurigen Lichte entzündet und erleuchtet, einander so gleich, daß alle andre Gleichheit gegen die ihrige unvollkommen ist. Allein in der Liebe und Erkenntniß sterblicher Menschen herrscht, wegen 166 der euch offenbaren Ursache, eine stete Verschiedenheit. Ich, als ein Sterblicher, fühle diese Ungleichheit. Und daher dankt mein 167 Herz allein für 109 diese väterliche Freude. Dich, der du in dem Glanze eines lebendigen Topases an diesem theuren Schmucke gesellschaftlich funkelst, dich bitte ich also, befriedige meine Wißbegierde durch die Bekanntmachung deines Namens!

O! mein geliebter Zweig, dessen Erwartung mich schon so reizend ergetze, ich bin die Stammwurzel deines Baums. - Diese Worte waren der Anfang seiner Antwort. Jener, so fuhr er hierauf fort, von dem dein Geschlecht seinen 168 Zunamen führet, und der nun schon über hundert Jahre in dem ersten Kreise 169 jenes Berges herumgetrieben wird, dieser war mein Sohn, und dein Urgroßvater. Wie dringend ist daher deine Pflicht. Wie dringend ist daher deine Pflicht, ihm sein langes Leiden durch heilige Werke zu verkürzen! Florenz in seinen alten 170 Ringmauern, daher noch itzt die heiligen Stunden ertönen, lebte im Friden, mäßig und keusch. Noch sah er seine Frauenspersonen nicht mit goldenen Ketten, nicht mit reichen Blumen, nicht mit prächtigen Kleidern, nicht mit glänzenden Gürteln ausgeziert, daß der Schmuck das Auge mehr, als die Person, auf sich gezogen hätte. Noch setzte keine neugeborhne Tochter, wegen einer zu zeitigen Verheirathung und zu reichen Mitgift, den Vater 110 in Furcht. Noch sah es keine Häuser, entblößt 171 von Familien. Noch war Sardanapal daselbst nicht erschienen, um seine Greuel in Kammern der Unzucht zu lehren. Noch war dem 172 Montemalo von eurem Uccellatojo der Vorzug nicht geraubet. Allein so wie dieser an Aussicht nach seinen erhabenen Gebäuden jenen übertrifft, eben so wird er ihn auch an Aussicht nach seinen tiefen Ruinen einst übertreffen. Ich sah den 173 Bellincion Berti in lederner Kleidung mit beinernen Knöpfen einhergehen, und seine Frau mit ungeschminktem Gesichte vom Spiegel treten. Ich sah den von Nerli und den von Vecchio mit Vergnügen unüberzogene Pelze tragen, und ihre Frauen mit Lust am Spinnrade sitzen, und arbeiten. Glückselige Frauen! Eine jede war ihres 174 Begräbnisses sicher, und noch keine einzige lag wegen 175 Frankreich in ihrem Bette verlassen. Die 111 eine wachte sorgfältig bey der Wiege, und liebkoste das Kind in der Sprache, mit der es zuerst seine Eltern erfreuet. Die andre erzählte, indem sie dem Rocken sein Haar entspann, ihren Kindern Geschicten von den Trojanern, von Rom und von Fesole. Eine 176 Cianghella, ein Salterello wären damals eben solche Wunder gewesen, als gegenwärtig ein 177 Cincinnatus und seine Cornelia sein würden. Einem so ruhigen, einem so schönen bürgerlichen Leben, einer so redlichen Bürgerschaft, und einem so reizenden Aufenthalte schenkte mich Maria, die meine Mutter in ihren Geburthsschmerzen angerufen hatte. In eurer alten Johanniskirche ward ich ein Christ, und erhielt zugleich den Namen Cacciaguida. Moronto und Eliseo waren 178 meine Brüder. Meine Frau war aus Ferrara. Und von dieser führst du deinen Zunamen. Hierauf diente ich unter dem Kaiser 179 Conrad, und erhielt von ihm den Ritterorden. 112 Also kam ich, durch edle Thaten, bey ihm in Gnaden. Ich folgte ihm im Feldzuge wider die Bosheit jenes 180 Gesetzes, dem das Volk unterwürfig ist, welches, durch die Schuld des Pabsts, das heilige 181 Land unrechtmäßig an sich reißt, das nach der Gerechtigkeit euer Eigenthum ist. Und hier ward ich durch dieses unreine Volk von der betrüglichen Welt 182 entfesselt, deren Liebe so viele Seelen verunreiniget. Also kam ich aus jener Marter zu diesem Frieden.

Sechzehnter Gesang

Anmerkungen:

P160 Des Virgils.
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P161 Des Aeneas.
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P162 Also redet er den Dante an, der das erste Mal, noch lebendig, in den Himmel eingieng, und auch, nach seinem Tode, zum zweyten Male, auf ewig in denselben eingehen sollte.
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P163 Cacciaguida, der Urältervater des Dante.
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P164 Durch die Gegenwart seines Urenkels, des Dante, welche er so lange gewünscht, und dessen gewisse Ankunft er in Gott gesehen hatte.
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P165 Weil diese Zahlen aus fünf und sechs Einheiten bestehen.
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P166 Nach eurer eigenen Erfahrung. Denn viele erkennen mehr, als sie lieben, und viele lieben mehr, als sie erkennen. Viele wünschen, nach einer größern Erkenntniß lieben zu können, und viele wollen nach der Größe ihrer Erkenntniß nicht lieben.
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P167 Mein Herz fühlt itzt mehr Liebe, als mein Verstand erkennt, wie er gehörig danken soll.
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P168 Alighieri.
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P169 In dem ersten Kreise des Fegfeurs, in welchem die hochmüthigen Seelen gereiniget werden.
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P170 In welchen sich die Stadtuhr befand, welche die bestimmten Stunden, zur Verrichtung des feyerlichen Gebeths und der öffentlichen Geschäffte, ertönen ließ.
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P171 Durch die grausamen Parteyen und bürgerlichen Kriege der Welfen und Gibellinen.
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P172 Montemalo ist ein erhabener Ort, zwischen Viterbo und Rom, von welchem man die prächtigsten Gebäude der Stadt Rom erblickt, so wie die stolzen Palläste der Stadt Florenz sich dem Auge zeigen, wenn man sich auf dem Uccellatojo befindet, welcher gleichfalls erhabene Ort nicht weit von Florenz entfernt ist.
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P173 Bellincion Berti, Nerli, und Vecchio waren sehr reiche florentinische Edelleute, welche in großen Ansehen stunden.
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P174 In ihrem Vaterlande, ohne Furcht, verjagt zu werden.
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P175 Wohin eine übertriebene Gewinnsucht zu den Zeiten des Dante die Männer trieb, die auf eine so niederträchtige Art ihre Gattinnen und Kinder verließen.
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P176 Eine sehr stolze und unkeusche adeliche Dame in Florenz, die zur Zeit des Dante lebte. Und Salterello war ein zänkischer und schmähsüchtiger Rechtsgelehrter und boshafter Feind des Dante.
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P177 Der bekannte und berühmte würdige Römer. Cornelia war die Tochter des Scipio Africanus, und Gemahlinn des Tiberius Gracchus, eine Dame von dem würdigsten Character.
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P178 Aus der Familie der Alighieri. Und diesen Namen eignete sich der Sohn und nachher die ganze Familie des Cacciaguida zu, welche zuvor die Familie der Elisei hieß.
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P179 Conrad, dem dritten.
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P180 Des mahometanischen Gesetzes.
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P181 Das gelobte Land, das christliche Potentaten beherrschen würden, wenn der Pabst christlich handelte.
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P182 Er starb an den vielen Wunden, die er von den Türken empfangen hatte.
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