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E l f t e r  G e s a n g.
Didaktische Episode über die Hölleneintheilung.
Inhalt.
     Dicht am innern Rande des Ketzerkreises, wo in einiger Entfernung der Weg in den siebenten Kreis der viehischen Gewaltthätigkeit im eigentlichen Sinne hinabführt, gelangen die Dichter zu den noch schlimmern Ketzern, die Christum mit Gewalt zu einem bloßen Menschen machen, indem sie neben der menschlichen Natur die göttliche läugnen, so wie jene den Menschen zu einem bloßen Viehe herabwürdigen, indem sie neben der materiellen Natur eine geistige nicht anerkennen. Auch diese Ketzer, repräsentirt von einem vermeintlichen Stellvertreter Christi, dem Papst Anastatius II., werden mit dem glühenden Sarge bestraft: denn wer an Christum, der das Leben ist, nicht glaubt, verdammt sich selbst zum ewigen Tode. Virgil macht mit Dante hinter dem gewaltigen Sarge des Anastatius Halt, um sich nach und nach an den übeln Geruch zu gewöhnen, der aus den tiefer ligenden Kreisen der dämonischen Arglist emporzusteigen scheint, die, weil sie ein Mißbrauch der dem Menschen eigenthümlichen Gnadengabe der Vernunft ist, bei Gott in übelm Geruche steht. Hier tritt nun, dem Charakter des religiösen Epos gemäß, eine didaktische Episode ein, im welcher Dante durch den Mund Virgil's mit scholastischer Genauigkeit auf Grund des Aristoteles Rechenschaft giebt über die Vertheilung der Verdammten in die verschiednen Kreise (s. Einl.)

     Zum Schlusse setzt Virgil dem Dante auseinander, daß die Unenthaltsamkeit, weil minder verwerflich, als die Gewaltthätigkeit und Arglist, in den Höllenaußenwerken gestraft werde und daß der Wucherer die Güte Gottes beleidige, insofern er der Natur, die ein Ausfluß ist der Güte Gottes (H. 1, 39 und Anm.), an und für sich und mittelbar in der Kunst, ihrer Schülerin, Hohn spricht. Darauf setzen sie ihre Reise bei schon hereinbrechendem Morgen fort.

F a d e n.
1.
  Kurzer Stillstand.
13.
  Belehrung über die folgenden Kreise.
67.
  Frage über die vorhergehenden Kreise.
91.
  Abermalige Frage über den Wucher.

XI.

1 An eines hohen Felsenufers Rande,
  Um das sich große Trümmer her geschichtet,
  Gelangten wir zu noch viel grauserm Lande.
4 Da hatten wir, vom Uebermaß vernichtet
  Des Stanks, der aus dem Abgrund steigt, dem trüben,  01
  Uns hinter einen Deckel hingeflüchtet
7 Von einem großen Sarg, daran geschrieben:  02
  "Papst Anastasius halt ich im Verschlusse,  03
  Weil ihn Photin vom graden Weg getrieben" - 04
10 "Hinuntersteigen laß uns nun mit Muße,
  Daß erst der Sinn den bösen Hauch vertrage!
  Dann ist er dir nicht weiter zum Verdrusse."
13 Also mein Herr; und ich: "Ein Mittel sage,
  Daß wir die Zeit nicht ungenutzt verschwenden."
  "Das ist's", sprach er, "was ich im Sinne trage."
16 "Mein Sohn," begann er, "zwischen jenen Wänden
  Befinden sich drei stufenweise Ringe, 05
  Den andern gleich, die uns hinuntersenden.
19 Der dort Verdammten Zahl ist nicht geringe;
  Doch daß die Schau dem Wunsch nicht übrig lasse,
  Vernimm, wie und warum man sie so zwinge.
22 Jedweder Bosheit, die in Gottes Hasse,  06
  Endziel ist Unrecht, gleichviel, ob der Quäler
  Mit List den Nächsten, ob gewaltsam fasse.
25 Doch da die List des Menschen eigner Fehler,
  Haßt Gott sie mehr; drum stößt er, die sie liebten  07
  Wo mehr Schmerz stürmt, in's unterste der Thäler.
28 Der erste Kreis faßt, die Gewalt verübten;
  Doch da man drei Personen kann beschweren,
  So theilt er sich in drei für die Betrübten.
31 Gott, sich, den Nächsten kann man ja verheeren
  An der Person, und an dem Gut nicht minder;
  Das will ich dich mit klaren Gründen lehren.
34 Zum Mörder wird man oder auch zum Schinder
  Am Nebenmann; sein Eigenthum vernichtet
  Brand und Verwüstung, oder auch Geplünder.
37 Todtschläger drum, und wer auf Mordthat dichtet,
  Zerstörer, Rüber sind der Marter wegen
  Im ersten Zirkel, klassenweis gesichtet.
40 Auch kann der Mensch Hand an sich selber legen
  Und seine Güter: darum sollst du glauben:
  Im zweiten Zirkel, reuig ohne Segen,  08
43 Stehn alle die, so sich der Welt berauben,
  Glücksspieler und Vergeuder, die zu weinen,
  Da wo sie froh sein sollten, sich erlauben.  09
46 Gott selbst geschieht Gewalt, wenn ihn die Seinen
  Im Herzen leugnen, mit dem Mund verdammen  10
  Und die Natur verschmähn und sein Wohlmeinen.
49 Sodom und Cahors faßt in Eins zusammen  11
  Der kleinre Zirkel, um sie so zu siegeln;
  Auch die Gott schmähn, indeß die Herzen flammen.
52 Die List, die alle nagt, die sie erklügeln,  12
  Kann den Vertrauenden sowohl, als jenen,
  Der kein Vertraun einspeichert, überflügeln.  13
55 Die letztre Art zerreißt gleichwohl die schönen,
  Von der Natur geknüpften Liebesbande;
  Drum an daß Nest vom zweiten Kreis gewöhnen
58 Sich Heuchler, Schmeichler, alle die vom Stande
  Der Zaubrer, Fälscher, Amtserkäufer, Diebe,
  Der Kuppler, Gauner und dergleichen Schande.
61 Die andre Art vernichtet jene Liebe,
  Die die Natur giebt, und die zugeschenkten,
  Besonderen Vertrauens schwangern Triebe.
64 Drum, wer verräth, kommt in den ganz verengten
  Schwerpunkt des Alles, wo Satan sitzt, und leidet
  Mit den dort bis in Ewigkeit Gekränkten."
67 Und ich: "O Meister, ziemlich deutlich schreitet
  Die Rede vorwärts, die die Höllenschlunde,
  Sammt der Bevölk'rung, trefflich unterscheidet.
70 Doch die Bewohner der verschlammten Gründe,
  Und die so rauh sich grüßen, die vom Regen
  Geschlagenen, und die ein Spiel der Winde,
73 Wenn Gott sie haßt, sag' mir den Grund, weßwegen
  Er außerhalb der rothen Stadt sie züchtigt;
  Haßt er sie nicht, warum sie dann so fegen?" -
76 "Was spricht dein Geist so irr," ward ich berichtigt,
  "Wie er nicht pflegt, so ohne Ueberlegung;
  Es scheint, daß er ganz Anderes besichtigt.
79 Zieh deiner Ethik Worte in Erwägung!  14
  Weißt du nicht von den dreifachen Zuständen,
  Die Gott nicht will, die Auseinanderlegung?
82 Der Unelthaltsamkeit, Bosheit, elenden
  Viehmäßigkeit? und wie der erstern Sklaven
  Gott minder kränken und sich minder schänden?
85 Falls diese Wort' ein achtsam Ohr nun trafen,
  Und du die Art erwägest der Verbrecher,
  Die draußen stehen unter ihren Strafen,
88 So siehst du klar, warum sie dieser Schächer
  Genossen nicht sind, und wie es geschehe,
  Daß kühlern Muths sie hämmert jener Rächer." -
91 Heilskräft'ge Sonne, wann ich trübe sehe;
  Was du erklärst", sprach ich, "hat solche Würze,
  Daß ich fast lieber zweifle, als verstehe.
94 Ein wenig rückwärts geh' noch in der Kürze,
  Bis zu dem Punkte, wo du meinst, es schlage
Der Wucher Gottes Güte: das entschürze!"
97 "Philosophie, - nur daß man danach frage! -
  Lehrt jeden", sprach er "nicht in einem Theile,
  Daß die Natur den ersten Anlauf wage
100 Von Gottes Sinn und seiner Kunst. Nun eile
Zu deiner Physik; diese, wohl betrachtet,
Zeigt dir nach wenig Blättern eine Zeile,
103 Daß eure Kunst sie möglichst scharf beachtet,  15
  Wie Schülern ihren Lehrer. Wär' zu streiten,
Wenn ihr sie drum zu Gottes Enklin machtet?
106 Von diesen Zwein, - denk' an die ersten Seiten
Der Genesis! - mit gutem Rechte fristet  16
Der Mensch sein Leben, müht sich fortzuschreiten.
109 Der Wuchrer, dem ein andrer Weg gelüstet,
Höhnt die Natur in sich und ihrer Treuen,   17
Dieweil er sich, auf Andres stützend, brüstet.
112 Jetzt folge mir; Ich will den Weg erneuen.
Die Fische schnellen an dem Ostsaum munter,
Der Wagen liegt nordwest, und dort im Freien
115 Noch weiter fürbaß geht's den Fels hinunter."

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Zwölfter Gesang

Erläuterungen:

01 Der üble Geruch scheint vorzugsweise aus Uebelsäcken (H. 18, 1), der ersten Region der Arglist, zu kommen (Hölle 17, 3; 18, 106-108; 29, 49-51); wenigstens wird in den Kreisen der Gewaltthätigkeit nichts von Gestank erwähnt.

02 "Stürzet der Seher herab, wird er von Allen verlacht." Wenn das Haupt der Kirche ein Irrlehrer ist, so weist man billig mit Fingern auf ihn. Das geschieht hier durch die Schrift.

03 Anastasius II., gegen Ende des fünften Jahrhunderts, hat der Sage nach Christo die göttliche Natur abgesprochen und ist dafür mit plötzlicher Verschüttung der Eingeweide gestraft worden.

04 Photin, nach dem Ottimo Commento Bischof von Gallogräcia, Anhänger des Acacius. Dante scheint, wie auch Philaletes bemerkt, mit diesem Zusatze andeuten zu wollen, daß das Haupt der Kirche nur in Gemeinschaft mit dem ganzen Concil der Bischöfe unfehlbar ist. Dante war mithin nicht gut römisch, sondern auch in diesem Stücke germanisch gesinnt.

05 Der erste von den dreien (im Ganzen der siebente) befaßt die Gewaltthätigen (28) und zerfällt wiederum in drei kleinere Zirkel (30); der zweite (im Ganzen der achte) umschließt die Betrüger (57), der dritte (im Ganzen der neunte und letzte) die Verräther (64).

06 Dieser Zusatz schließt jede Beleidigung des Nächsten aus, die nicht darauf ausgeht, Unrecht zu thun.

07 Hier tritt Dante zu Aristoteles, der die Laster der Sinnlichkeit, die der Mensch mit dem Thiere gemein hat, für verwerflicher erklärt, insofern sie der menschlichen Würde zu nahe treten (Eth. 3, 13), in bestimmten Gegensatz, und zwar mit Recht: denn die Sünden aus dem Geiste, den der Mensch mit Gott gemein hat, müssen dem Christen abscheulicher erscheinen, weil sie der göttlichen Würde zu nahe treten. Vergl. übrigens Cic de offic. 1, 3.

08 Von dieser segenslosen Reue der Verdammten sagt Th. A. Spp. 86: "Es kann ihnen die Sünde nicht mißfallen, insofern sie eine Schuld ist, sondern es mißfällt ihnen die Strafe, die sie leiden, in Bezug worauf sie eine gewisse, aber freilich unfruchtbare Buße zeigen".

09 Gott hat das Spiel zur Erholung geordnet; diese Leute verkehren es sich selbst zur Marter.

10 Die Gotteslästerung betrachtet Dante als eine Gewaltthat gegen die Person Gottes, denn dem Gotteslästerer fehlt nur die Macht, nicht der Wille, Gott zu vernichten, und es giebt ja Beispiele, daß Leute der Art im Wahnsinn der Bosheit gen Himmel werfen und schießen. Zu einer förmlichen Gotteslästerung gehört aber die bewußte Zustimmung des Herzens (vergl. auch V. 51).

11 Die Sodomiten und Wucherer (im Mittelalter Caorsini genannt, von Cahors in Languedoc, wo die berüchtigsten Wucherer ihren Sitz gehabt zu haben scheinen) thun nicht der Person, sondern dem Eigenthum Gottes, der Natur, Gewalt an. Auf das Naturwidrige der Sodomiterei weist R¨mer 1, 27 hin.

12 Dieser Zusats schließt jede unschuldige List und die sogenannte fraus pia im bessern Sinne aus.

13 Dieser Ausdruck beseichnet das Vertrauen als einen Schatz. Es ist hier von dem besondern Vertrauen der Wahl- und Blutsverwandtschaft die Rede, das zu dem durch die allgemeine Menschenliebe erzeugten Vertrauen hinzukommt (61-63). Die Verletzer des allgemeinen Vertrauens sind die Betrüger, die des besondern die Verräther.

14 Die Ethik des Aristoteles nämlich, 7, 1. S. Einl.

15 Aristoteles sagt Physik 2, 2, daß die Kunst (.....) die Natur möglichst nachamt. Es ist hier nicht von Copirung der Naturgegenstände,sondern von Befolgung der Naturfingerzeige die Rede. Der Sinn von 100 - 105 scheint kürzlich der zu sein. Die weise Werkkunst Gottes giebt der Natur den ersten Anstoß (als das .... des Philosophen), und die Natur macht es dem lieben Gotte gewissermaßen nach, indem sie ihren Erzeugnissen von Stufe zu Stufe auf- und niedersteigt und auf jeder Stufe eine unendliche Mannigfaltigkeit individueller Bildungen entwickelt, gerade so wie es Gott in der Geisterwelt macht (Th. A. 1, 89, 1. sagt: "Es ist klar, daß unter den intellektuellen Substanzen, der Naturordnung nach, die Menschenseelen die niedrigsten sind; das aber erforderte die Vollkommenheit des Universums, daß verschiedene Grade in den Dingen wären"). Die menschliche Werkkunst nun ahmt, indem sie diesen Fingerzeig der individualisirenden Natur benutzt, der Kunst der Natur und in ihr der Kunst Gottes nach: so daß, wenn die Kunst der Natur die Tochter der Kunst Gottes ist, die Kunst des Menschen deren Enkelin kann genannt werden. Wir können hier die ganz neue Erklärung Göschel's nicht unerwähnt lassen, der sua arte auf die Natur zurückbezieht und darunter den der Natur inwohnenden Bildungstrieb versteht, der unter den beständigen Zufluß der göttlichen Weisheit (divino intelletto) ist. Das Hauptbedenken dagegen ist nur das, daß auf diese Weise die Schlußreihe (Kunst Gottes - Kunst der Natur - Kunst des Menschen), wenigstens in formeller Hinsicht, zerstört wird. Siehe übrigens die lesenswerthe Abhandlung über Dante's Weltschöpfung und Weltordnung.

16 1. Buch Moses 2, 15, und 3, 19, wo der Mensch zu seinem Bestehen und Gedeihen an die Natur und an die eigene Werkkunst gewiesen wird, die hier zunächst nur als Mithelferin der Natur; freilich auch nach dem Fingerzeige derselben, auftritt, etwa wie Th. A. sagt (1, 117, 1.): "Die Kunst ahmt der Natur im Wirken nach, denn wie die Natur den Kranken durch Umsetzung, Zertheilung und Austreibung des Krankheitsstoffes hilft, so auch die Kunst. Und dann ist zu beachten, daß die Kunst nicht wie das erste Agens wirkt, sondern als Mitthelferin desselben, indem sie es stärkt und ihm die Werkzeuge und Hülfsmittel darreicht, deren sich die Natur, um die Wirkung hervorzubringen, bedient, wie etwa der Arzt die Natur kräftigt und ihr die Speisen und Heilmittel darbietet, deren sich die Natur zum vorgesetzten Zwecke bedient".

17 Der Natur an und für sich spricht der Wucherer Hohn, indem er, dem Laufe der Natur entgegen, das todte Metall, das keinen lebendigen Samen in sich trägt, Frucht zu bringen nöthigt, während es doch nur zur Ausgleichung im Handel und Wandel bestimmt ist; der Natur in ihrer Schülerin, der Kunst, spricht er Hohn, indem er, den Fingerzeig der individualisirenden Natur verachtend, seine Kunstthätigkeit auf die Erzeugung einens unerfreulichen Einerleis richtet. (Aehnlich Göschel in der angef. Schrift. [Carl Friedrich Göschel: Dante Alighieri's Unterweisung über Weltschöpfung und Weltordnung diesseits und jenseits. Ein Beitrag zum Verständnisse der göttlichen Komödie. F. Müller, Berlin 1842])